Von Kopenhagen nach Kassel: Wie ein Schulneubau den Bildungsstandort revolutioniert – Einblicke in den Architekturentwurf von Julian Weyer (CF Møller)
Am 20. November 2024 stellte Julian Weyer, leitender Architekt beim dänischen Büro CF Møller, im Rahmen des Themas „Schulbau heute“ an der Universität Kassel die Pläne für den Neubau der Offenen Schule Waldau vor. Dabei zeigte er eindrücklich, wie zeitgemäße Architektur und moderne Pädagogik Hand in Hand gehen können, um eine Schule zu gestalten, die weit mehr ist als ein reines Lerngebäude – nämlich ein zentraler Ort für den gesamten Stadtteil. – Eine Zusammenfassung
Von skandinavischem Modernismus und 21st-Century-Skills
Julian Weyer betonte zu Beginn seines Vortrags die skandinavische Tradition eines „Humanismus in der Architektur“: Bauen wird dort als soziales Werkzeug verstanden, um Gemeinschaft und Bildungsprozesse bestmöglich zu fördern. Ein wichtiger Impuls für die pädagogische Raumplanung sind dabei die sogenannten „21st-Century-Skills“ – Kompetenzen, die vernetztes, projektorientiertes und kollaboratives Lernen in den Vordergrund rücken. Diese Idee prägt in vielen skandinavischen Schulbauprojekten bereits seit Jahren die Raumplanung: Klassische Flure und Klassenzimmer werden durch offene Lernlandschaften und flexible Bereiche ersetzt.
Diese Offenheit spiegelt sich auch im Neubau der Offenen Schule Waldau wider: Die Schularchitektur soll sich nicht länger auf reine Unterrichtsnutzung beschränken, sondern multifunktional sein und den Stadtteil mit einbeziehen.
Schule als integrativer Lern- und Begegnungsort
Architektur und Pädagogik müssen sich gegenseitig befruchten, so Weyers zentrale Botschaft. Was bedeutet das konkret für den Schulbau?
1. Außerschulische Nutzung
Viele moderne Bildungsbauten in Skandinavien bieten Räume, die sowohl für Schülerinnen und Schüler als auch für die Öffentlichkeit nutzbar sind. Ob in Kopenhagen oder Finnland: Sport-, Kultur- und Lernflächen werden so gestaltet, dass sie auch nach Schulschluss für Vereine, Initiativen und Bürgerinnen und Bürger offenstehen.
Dies stärkt die Bindung an das soziale Umfeld und kann sogar helfen, Ressourcen zu schonen: Statt mehrfach Hallen zu bauen, wird ein zentrales Angebot geschaffen, das von allen gemeinsam genutzt wird.
2. Lernumgebung als offener Campus
In Kopenhagen existieren Schulen, in denen die Schulküche zum Herzstück wird und jeder Raum einen direkten Zugang zu Freiflächen hat. Diese Überlegungen finden sich auch im Entwurf für die Offene Schule Waldau: Dachterrassen, durchgehende Atrien, mehrere Ebenen zum Ausweichen und ein landschaftsbetontes Außengelände fördern kreatives Arbeiten sowie einen intensiven Austausch – nicht nur innerhalb der Schule, sondern auch mit dem Stadtteil.
3. Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung
Moderne Schulbauten in Skandinavien streben „CO₂-arme“ oder gar „CO₂-neutrale“ Lösungen an. Zahlreiche Neubauten werden ganz oder teilweise aus Holz und anderen biogenen Materialien errichtet. Ebenso spielt die Energieversorgung eine zentrale Rolle: Schulfassaden als Photovoltaikanlagen sind keine Seltenheit. Diese Idee des „Gebäudes als Ressourcenspeicher“ findet sich nun auch in Kassel wieder. So wird der Holzanteil im Bau hoch sein, die Fassade vorgefertigt und die gesunden Baumaterialien katalogisiert – ein Ansatz, der eine spätere Wiederverwendung und Umnutzung ermöglicht.
Das architektonische Konzept für die Offene Schule Waldau
1. Offene Cluster und zentrales Atrium
Der Neubau der Offenen Schule Waldau geht einen Schritt über das klassische „Compartment-Modell“ hinaus. Zwar sind Lerncluster für verschiedene Jahrgangsstufen vorgesehen, doch innerhalb dieser Bereiche wird der Unterricht nicht mehr starr in Klassenzimmern stattfinden. Stattdessen gibt es Lernorte, die flexibel auf unterschiedliche didaktische Szenarien reagieren können.
Ein zentrales Atrium durchzieht mehrere Ebenen und schafft eine offene Verbindung zwischen den Geschossen. Dieser Bereich dient als Forum, an dem sich das Schulleben fokussiert. Lerninseln, Durchblicke zwischen den Clustern und direkter Bezug zur Außenwelt fördern Austausch und Transparenz.
2. Vertikale Landschaft und Dachterrassen
Ein herausragendes Merkmal im Entwurf sind die großzügigen Dachterrassen, die wie eine aufsteigende „Freiraumspirale“ sämtliche Ebenen miteinander verbinden. Damit entsteht ein zusätzlicher Lern- und Bewegungsraum im Freien, der sowohl für naturwissenschaftliche Experimente als auch für Sportaktivitäten oder gemeinsames Kochen und Essen genutzt werden kann.
3. Stadtteilintegration
Wichtiges Anliegen des Projekts ist, den Neubau als „Bindeglied“ zwischen unterschiedlichen Quartieren in Kassel zu begreifen. Anders als eine Schule, die sich nach außen abschottet, soll die Offene Schule Waldau ihre Ressourcen (Bibliothek, Musik-, Kunst- und Werkräume, Jugendzentrum, Sportangebote) mit dem Stadtteil teilen. So entsteht eine Win-win-Situation: Die Schule wird zum lebendigen Treffpunkt, der über Unterrichtszeiten hinaus ein Ort für Kultur, Bildung und Begegnung ist.
4. Nachhaltigkeit und Rohstofflager
Alle eingesetzten Materialien werden digital erfasst („Materialkataster“), um sie später weiternutzen oder recyceln zu können. Holz in Tragwerk und Fassade reduziert den ökologischen Fußabdruck gegenüber herkömmlichen Bauweisen spürbar. In Kombination mit Gründächern und Photovoltaik ist das Gebäude darauf ausgelegt, Energie zu sparen und zur Klimafreundlichkeit der Stadt Kassel beizutragen.
5. Landschaftliche Einbindung und Renaturierung des Wahlebachs
Das Schulgelände grenzt an den renaturierten Wahlebach: Dort, wo früher betonierte Ufer und kanalartige Strukturen waren, entsteht nun ein grünes Band. Diese Umgestaltung schafft neue Möglichkeiten für Biodiversität, Naherholung und das Draußen-Lernen. Wasserflächen und Versickerungszonen übernehmen eine wichtige Funktion in der Oberflächenentwässerung, während der Park auch öffentlich nutzbar bleibt.
6. Partizipation und Open-Source-Prozess
Das Projekt wird in enger Zusammenarbeit mit der Montag Stiftung realisiert, die das Programm „Schulbau Open Source“ initiiert hat. Ziel ist, den Entwicklungsprozess – von den pädagogischen Konzepten bis zur Materialwahl – für alle transparent zu halten. Nutzerinnen, Schulleitung, Lehrkräfte, Stadtteilbewohnerinnen und externe Expertinnen arbeiten eng zusammen, damit die Schule von Beginn an auf vielfältige Bedürfnisse ausgerichtet ist.
Dazu passt die Grundhaltung des Architekturbüros CF Møller: Architektur funktioniert nur in Abstimmung mit denen, die sie später tagtäglich nutzen. Was in Dänemark längst Standard ist, findet nun auch in Kassel seinen Weg – ein partizipativer Prozess, der konventionelle Planungsroutinen hinterfragt und neue Wege in der Schularchitektur ermöglicht.
Ausblick
Julian Weyer schließt seinen Vortrag mit einem optimistischen Blick in die Zukunft: Das Neubauprojekt der Offenen Schule Waldau vereint zentrale Zukunftsthemen des modernen Schulbaus. Von nachhaltigen Materialien über integrative Pädagogik bis hin zu flexibler Raumnutzung, Digitalisierung und enger Vernetzung mit dem Quartier – hier entsteht ein wichtiger Impuls für den Bildungsstandort Kassel, dessen Wirkung weit über das Schulgelände hinausreichen wird.
Die Umsetzung zeigt: Die Offene Schule Waldau entwickelt sich zu einem wegweisenden Prototyp. Statt starrer Strukturen entstehen vielseitig nutzbare Räume, die sich flexibel an neue pädagogische Anforderungen anpassen. Diese zukunftsweisende Verbindung von innovativer Lernlandschaft, lebendigem Stadtteilzentrum und konsequent ökologischer Bauweise hat das Potenzial, bundesweit neue Standards für einen zukunftsorientierten Schulbau zu setzen.
Kommentar
Das vorgestellte Architekturkonzept verkörpert die pädagogische Vision der Offenen Schule Waldau in bemerkenswerter Weise. Die flexibel gestalteten Cluster und offenen Räume schaffen Lernumgebungen, die individuelles wie gemeinschaftliches Lernen gleichermaßen fördern. Anders als traditionelle Klassenzimmer entstehen hier Orte des kooperativen Lernens, die unsere Kernwerte – Selbstständigkeit, Kreativität und gemeinsame Verantwortung – im Schulalltag lebendig werden lassen.
Die Integration in den Stadtteil und der Fokus auf Nachhaltigkeit entsprechen unserem Selbstverständnis als inklusive, verantwortungsbewusste Bildungseinrichtung. Durch die Öffnung für kulturelle, soziale und sportliche Aktivitäten wird die Schule zu einem Begegnungsort, der Schülerschaft, Eltern und Nachbarschaft verbindet. Der ressourcenschonende Bauansatz und das Verständnis der Materialien als Rohstofflager unterstreichen unser Ziel, eine zukunftsfähige Schule zu gestalten – digital, nachhaltig und mit Weitblick. Hier entsteht ein Lernort, der nicht nur Wissen vermittelt, sondern Werte für die Zukunft unserer Kinder schafft.
Die Stadt Kassel hat 2018 den Mut bewiesen, diesen zukunftsweisenden Neubau gemeinsam mit uns zu planen – ein Engagement, das bis heute anhält. Unser Ziel ist es, Schule als echten Lebensraum zu gestalten, der mehr Lernzeit ermöglicht und sozioökonomische Unterschiede ausgleichen kann. Dieses Modell wird über Kassel hinaus Beachtung finden. Deutschland braucht mehr solcher innovativen Projekte, die sich von traditionellen Schulbaumustern lösen – und vor allem die engagierten Menschen bei den Schulträgern, die solche Visionen verwirklichen.
Räume prägen unser Denken und Handeln. Wenn wir den ‚Raum als dritten Pädagogen‘ ernst nehmen, ist jede Investition in durchdachte Schularchitektur eine Investition in gerechtere Bildungschancen und damit in die Zukunft unserer Kinder und Jugendlichen.Denn die Räume, in denen wir uns tagtäglich bewegen, prägen unser Denken und Handeln maßgeblich. Wenn wir wirklich den ‚Raum als dritten Pädagogen‘ begreifen, ist jeder investierte Euro ein sinnvoll eingesetzter Euro – einer, der Kindern und Jugendlichen nicht nur bessere Lernbedingungen, sondern auch die Chance auf eine gerechtere Zukunft bietet.“
Pascal Berkenheger
Schulleiter